Donnerstag, 3. Januar 2008

GESELL - der Tauschtheoretiker, Aufdecker der eigenen Widersprüche



Eine Vorbemerkung


Silvio GESELL (1862-1930), Begründer der Freiwirtschaftslehre,  beginnt seine ökonomischen Studien mit einer ihm eigenen Zinstheorie, die rasch plausibel ist, letztlich aber doch nicht konsistent erklären kann, woher das Geld für die mit dem Zins einhergehende Geldakkumulation kommt. Bald jedoch kristallisiert sich in GESELLs Arbeiten die Rolle des Kredits heraus. Als Konkurrent des Geldes, wie GESELL sagt, als etwas, das neben dem Geld wirkt und nicht einfach sich als das Verleihen von vorhandenem Geld darstellt.  Damit aber wird in seinen Darstellungen schemenhaft das Bild einer ganz bestimmten Form der Ökonomie erkennbar: Die Warenproduktion in kapitalistischen Unternehmen, die der Geldvorschüsse bedürfen – im Gegensatz zur Produktion in (bäuerlichen) Selbstversorger-Haushalten, die lediglich ihre Überschüsse auf regionalen Märkten tauschen.  Daraus entwickelt sich letztlich in GESELLs Arbeiten die Kritik an der damals sich herausformenden heutigen Kredit- und Geldschöpfung – und damit die Kritik an einer Geldordnung, in der Geld durch Verschuldung entsteht und durch Entschuldung wieder verschwindet. Eine Geldordnung, die sich heute immer mehr als dysfunktional herausstellt, weil die das Geld ausgebende Stelle eben nicht jene optimale Geldmenge bereitstellen kann, bei derdas Geldangebot regelmäßig, zu allen Zeiten und allen Umständen so bemessen sei, dass Hausse- und Baisseperioden vermieden werden”.  Im Gegenteil: Weil Geld aus Verschuldung entsteht, wird durch Einbremsung der Verschuldungsentwicklung auch die Entwicklung der Geldmenge eingebremst, gewissermaßen Geld wegrationalisiert, so dass einer wachsenden Warenmenge eine weniger wachsende Geldmenge in der Realwirtschaft gegenübersteht.


Die Abermilliarden an Zinsgeldern, die von der Mehrheit der Menschen der ganzen Welt - den Armen - zu leisten sind, werden von einer Minderheit - den Reichen - als arbeitslose Einkommen kassiert: Diese nun nahezu allgemeine Erkenntnis ist so neu nicht.  Sie verbindet sich mit dem Namen SILVIO GESELL seit mehr als 100 Jahre. Es ist die stets rasch überzeugende Meinung, dass für einen Gutteil unserer wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Zinseszins verantwortlich ist. Sehr augenfällige Beispiele über die Vermögensentwicklung und Vermögensverteilung werden dabei aufgezeigt. Und als Grund für diese Übel wird dann unser derzeitiges Geld angeführt, das im Gegensatz zu den verschiedenen Waren unverderblich, kostenlos lagerbar, keiner sich verändernden Mode unterworfen und so hortbar ist. Und aus dieser Überlegenheit des Geldes den Waren gegenüber den Zins erpressen kann. Daraus ergibt sich dann die weithin bekannte  Forderung nach einem umlaufgesicherten Geld, einem ”rostendem Geld” als Quintessenz der Gesell’schen Lehre. Die Überlegenheit des Geldes wäre damit beseitigt, Geld kein Störfaktor mehr – und damit beständiger Gleichlauf der Wirtschaft gesichert. 

Als das  Musterbeispiel für dieses ‚neue Geld‘ wird immer wieder das ‘Wörgler Experiment’ angeführt.

Mit diesen Vorstellungen wird man jedoch dem, was GESELL ein ganzes Leben lang an- und durchgedacht hat, bei weitem nicht gerecht. Denn GESELL macht durchaus einen persönlichen Erkenntnisprozess durch, wie sich bei einer Aufarbeitung seiner Schriften zeigen lässt. Dieser Prozess, der in seinen Arbeiten nachvollziehbar ist, wird hier anhand von chronologisch geordneten Auszügen aus seinen Arbeiten herausgearbeitet. Ersichtlich wird dabei, dass GESELLs gemeinhin bekannten Idee als durchgehende ‘rote Linie’ bis zuletzt immer wieder zum Ausdruck kommt, allerdings stark durchsetzt von ganz neuen Gedanken.
”Thatsache ist nur, dass ich nach dem System verfuhr, zunächst selbst mir die Theorie zu den bekannten Thatsachen zu suchen, die gewonnenen Anschauungen in allen Theilen zu prüfen.” [1897 (1)] Sehr früh beschreibt er sich so selbst. Er setzt diesen Vorsatz jedoch nicht konsequent um. Er prüft zwar, aber verwirft nichts. Vielmehr versucht er, bereits sehr früh auftauchende Widersprüche  in seiner Grundthese einer Tauschwirtschaft aufzulösen, zu assimilieren, um so seine ursprünglichen, letztlich sehr einfachen Lösungsvorschläge beibehalten zu können. Insofern sind seine Aussagen nicht eindeutig, stellt sich sein Werk als eine Gedankenansammlung dar, in der all das aufgezeichnet ist, was GESELL in einem um das gleiche Zentrum kreisenden Denkprozess aufdeckt. Er beginnt aber nirgends, seine Gedankengänge neu aufzuarbeiten. So zeigen seine späteren Arbeiten bei weitgehender Wiederholung des bereits früher Geschriebenen, wie  da und dort und immer häufiger eben solche Widersprüche aufbrechen, die es nun zu bereinigen gilt. Dieses Bereinigen gelingt aber oftmals nicht, so dass  sich in die ursprünglichen Theorie und in dieser versteckt, eine neue, eine andere sich einschleicht, ebenso wie manchmal auch eine Bemühung, die Wirklichkeit seiner ursprünglichen Theorie anzupassen. Das letzteres  zu weiteren Widersprüchen mit der Wirklichkeit führen muss, ist zwar bedauerlich, aber menschlich verständlich.

Ziel dieser Arbeit ist deshalb nicht, auf diese Abweichungen und Widersprüche mit Fingern hinzuzeigen. Das sei hier ganz deutlich betont. Es geht vielmehr darum zu erkennen, dass SILVIO GESELL wesentlich mehr ‘ent’deckt hat, gesehen hat, erkannt hat, als von den Vertretern seiner Lehren je wahrgenommen wurde bzw. bis heute wahrgenommen wird. Dass GESELL Vorschläge zur Geldpolitik entwickelt hat, die KEYNES um 30 Jahre vorweg nehmen. Etliche seiner Einsichten sind selbst für ihn derart neu, dass sie ihm selbst verborgen bleiben. Etwa die Bedeutung des Faktors ‘Zeit’. Im Gegensatz zur noch immer vorherrschenden statischen Theorie der Neoklassik hätten sie damals schon die  Grundlage einer dynamischen Theorie der  ‘Marktwirtschaft’  - die besser ‘Kreditwirtschaft’ oder ‘Investitionswirtschaft’ heißen sollte - sein können.
Aufgabe von GESELLs Anhänger ist es deshalb, das aufzuarbeiten, was er hinterlassen hat. Dies aber hat mit kritischem Sachverstand und nicht mit gläubiger Bewunderung zu erfolgen. 

Dass das, was die Freiwirtschaft heute anbietet, vielen drängenden Fragen der Gegenwart und Zukunft nicht gerecht wird, ist auch auf Tagungen, wo über GESELLs Lehren referiert wird, deutlich spürbar. Die anfängliche Plausibilität des vorgetragenen Konzepts kann dabei nicht durchgehalten werden, wenn die komplexe Wirklichkeit als Prüfstein herangezogen wird.
Mit dieser Arbeit wird versucht, mit einer Neu-Interpretation  der Arbeiten SILVIO GESELLs zu  beginnen. Dabei sei einbekannt, dass auch der Interpret einen ständigen Lernprozess durchmacht, was dann auch auf Einleitung und Schlussfolgerungen Rückwirkungen hat. Sie werden möglicherweise noch öfter umgeschrieben.



Die Zinstheorie

Es sind fremde und auch eigene ‘Vor-Urteile’, zeitlich vorausliegende, wahrscheinlich sehr spontane ‘Gedankenblitze’, die er nicht mehr beiseite räumen kann. Zu den fremden Vorurteilen zählt wohl die damals wie heute allgemein verbreitete Beschreibung unserer Gesellschaft als Tauschgesellschaft und unserer Wirtschaft als Tauschwirtschaft. Es ist das Tauschen, das demnach eine arbeitsteilige Gesellschaft konstituiert. So ist es eigentlich nur der Tauschhandel, von dem GESELL immer wieder spricht. Und es ist die Beschreibung des Geldes als Tauschmittel. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht so der ‘Markt’, der freie Markt, auf dem sich von selbst alles zum besten durch das Spiel von Angebot und Nachfrage regelt. Seit ADAM SMITH das Credo der Marktwirtschaftler.

Auch GESELL nennt als obersten Preisrichter das (‘natürliche’) Gesetz von Angebot und Nachfrage. [1897 (3)] Seine Entdeckung ist nun, dass hier unser heutiges Geld als Störfaktor auftritt, der den ‘natürlichen’ Ausgleich von Angebot und Nachfrage verhindern kann. [1897 (2) (6)] Diese Störungsmöglichkeit soll nun durch die Einführung eines ‘rostenden Geldes’ - im Gegensatz zum beständigen Goldgeld dieser Zeit - beseitigt werden. Damit würde die ‘natürliche’ Wirtschaftsordnung so wie vor Einführung des Geldes wieder hergestellt. Der Zins als Tribut an das den Waren überlegene Geld würde so beseitigt und der volle Arbeitsertrag den Arbeitern zufließen.
Dazu allerdings ist nach GESELL auch noch eine Bodenreform notwendig.
Diese ersten Ideen scheinen nun aber eher aus einem spontanen Einfall denn aus einer tiefergreifenden Aufarbeitung entstanden zu sein. Vielleicht haben sie den Kaufmann Gesell überhaupt erst dazu gebracht, sich mit diesen Dingen theoretisch zu beschäftigen. So ist sein Erstwerk aus 1891 ‘Die Reformation im Münzwesen’ mehr eine Allegorie, welche die vorhandene und zukünftige Welt zeichnet, denn eine Analyse des Istzustandes. Seine tiefergehende kaufmännische Erfahrung, die ihm seinen eigenen Worten zufolge als Fundus für eine unabhängige Betrachtung dient, kommt erst später zum tragen. Und dann erst entdeckt er auch die Unstimmigkeiten seiner Argumentation.
Vorerst beschäftigt er sich nur mit dem augenscheinlichen Tausch Ware gegen Geld und der seiner Meinung nach bestehenden Disparität zwischen beiden. Dabei setzt er die Möglichkeit der Produktion der auszutauschenden Güter bedingungslos voraus: Die Waren werden und können einfach produziert werden. Und sie werden von den Haushalten produziert, denn nur diese können gleichzeitig Produzenten und Konsumenten sein.
In einem Beispiel wird das kurz und bündig beschrieben: ”Nehmen wir an, Müller und Schmied, durch Raum und Zeit getrennt, wollen ihre Erzeugnisse, Mehl und Nägel, austauschen und brauchen zu dem Zweck das Geld, das Meyer verfügbar hat. Meyer kann den Tausch, wenn er will, vermitteln, er kann den Tausch aber auch verzögern, unterbinden, einfach verbieten, denn sein Geld lässt ihm die Freiheit, den Zeitpunkt für die Vermittlung des Tausches auszuwählen. Ist es da nicht selbstverständlich, dass Meyer sich diese Macht bezahlen lässt und dass Müller und Schmied in einen Abzug an ihre Forderungen für Mehl und Nägel einwilligen müssen? ... Verweigern sie dem Geld ihre Abgabe, so zieht sich das Geld einfach vom Markt zurück, und Müller und Schmied müssen unverrichteter Sache ihre Habe mit schweren Unkosten wieder nachhause bringen.... .
Wir können also sagen: Unser heutiges Geld vermittelt der Regel nach (also kaufmännisch) den Austausch der Waren nur unter der Bedingung eines Tributes. Ist der Markt die Straße, auf der die Waren ausgetauscht werden, so ist das Geld der Schlagbaum, der nur nach Zahlung des Wegegeldes gehoben wird. Das Wegegeld, der Profit, der Zins oder wie man es nennen mag, ist die allgemeine Voraussetzung” [1911 (5)]
Mit diesen leicht einsehbaren, ihn selbst so begeisternden Ideen [1897 (2)] prägt er nun sein eigenes Vorurteil, dem er nicht mehr zu entrinnen vermag. Dazu mag kommen, dass er mit diesen plausiblen Ideen alsbald auch eine ihn verehrende Anhängerschaft gefunden hat, er sich dieser auch verpflichtet fühlt und diese später auch nicht enttäuschen will - und darum auch nicht mehr zu ‘ent’-täuschen vermag. Er verbessert zwar seine Arbeiten immer wieder, beginnt aber nie mehr, seine Gedanken neu aufzuarbeiten, Spreu vom Weizen zu trennen.


Unstimmigkeit 1: Der fehlende Faktor ,Zeit`


GESELLs Erstwerk datiert aus dem Jahre 1891. Mit einer genaueren Analyse des Istzustandes aber beginnt er erst 1904. Dort hält er aber auch schon fest, dass Geld nicht (nur) zum Tausch Ware gegen Ware genutzt wird, zwischen beide Waren sich als Tauschmedium schiebt, sondern Geld als Vorschuss Verwendung findet und in Unternehmen gesteckt wird: ”Der Kaufmann muss also den Geldbetrag der Waren vorschießen, denn zwischen Kauf und Verkauf liegt Zeit.” [1904 (2)] Damit im Zusammenhang wird auch der Faktor ‘Zeit’ erwähnt, aber dennoch nicht beachtet. Eine erste Unstimmigkeit in seiner Theorie lässt sich damit ausmachen. Denn der Tausch Ware gegen Geld bzw. Geld gegen Ware, von dem er ausgeht, braucht die Zeit nicht, wie er später dann auch erkennt.
Die Einsicht, dass es Zinszahlungen jedoch nur dort gibt, wo es Schulden während einer Zeit gibt, ist zwar banal, aber dennoch nicht offensichtlich. Zinszahlung ist ja gleich Zinssatz mal Zeit mal Schuldensumme.
GESELL kommt hier nun, wo er den Geldvorschuss dingfest macht, bereits zu einer neuen Theorie. GESELLs Grundthese ist ja, dass der Geldeigentümer Geld nicht vorschießt – und für diesen Vorschuss Zinsen kassiert -, sondern Geld gegen Waren tauscht und dabei den Tribut kassiert, der sich aus der Überlegenheit des Geldes ableitet. In obigem Beispiel von Müller und Schmied wird dies deutlich erkennbar. Sie brauchen keinen Geldvorschuss, um überhaupt produzieren zu können. Geld wird nur zum Tausch benötigt. Der in der täglichen Wirklichkeit feststellbare Geldvorschuss und die dafür anfallenden Zinszahlungen machen ihm deshalb zu schaffen. Und er äußert sich diesbezüglich – wenngleich sehr spät - in ”die Vervollständigung der Freigeld-, Zins- oder Kapitaltheorie”, ohne jedoch Klarheit zu schaffen, wie aus folgende Sätzen hervorgeht:
”Der Urzins war kein Darlehenszins; der Tausch des Geldes gegen Ware und der hierbei erhobene Tribut hatte absolut nichts gemein mit einem Darlehen. Der Urzins wurde darum auch nicht durch Angebot und Nachfrage bestimmt. Der Produzent gab im Tausch für das Geld seine Ware her. Es war ein Tauschgeschäft, und der Urzins wurde dabei erhoben, weil der Geldinhaber den Tausch gestatten und untersagen konnte.....
Beim Zins der Realkapitalien dagegen handelt es sich nicht um einen Tausch, sondern um ein Darlehen.......Der Fabrikant verleiht die Fabrik an die Arbeiter; der Bankier verleiht das Geld an den Schuldner - aber der Kaufmann, der den Zins von den Waren erhebt, verleiht nichts, er tauscht. ..... Und eigentlich müsste man ganz davon abgehen, diese beiden so verschiedenen Dinge mit dem gleichen Wort Zins zu bezeichnen........
Hier in der Unterscheidung zwischen Urzins und Darlehenszins fließt alles, was wir über den Urzins bisher gesagt haben, wie in einem Brennpunkt zusammen. Hier tritt seine Natur klar zutage. Man hat den Urzins nicht gesehen, weil er sich hinter dem gemeinen Darlehenszins (seiner Kreatur) versteckte. Wenn der Kaufmann Geld borgt und den Zins, den er dafür bezahlt, auf die Warenpreise schlägt, so ist das, wie man bisher annahm, ein Darlehenszins. Der Kaufmann schießt das Geld der Ware vor, er macht ihr ein Darlehen und die Warenproduzenten zahlen den Zins dieses Darlehens. So erklärte man die Sache. Man braucht übrigens kein oberflächlicher Denker zu sein, um an diesen Trugschluss achtlos vorbeizugehen. Der Schein ist wirklich hier sehr trügerisch. Man muss schon recht genau zusehen, um zu beobachten, dass der Zins, den der Kaufmann für das geliehene Geld zahlt, nicht Ausgangspunkt, sondern Endpunkt der ganzen Handlung ist. Der Kaufmann erhebt mit dem Geld den Urzins von den Waren und liefert, da das Geld ihm nicht gehört, den Urzins an den Geldgeber ab.... Wäre es sein eigenes Geld gewesen, so hätte er genau so den Urzins erhoben. Und dann, wo wäre das Darlehen gewesen? Beim Darlehen ist doch Leistung und Gegenleistung zeitlich getrennt. Der Darlehenszins richtet sich doch ganz nach der Zeitspanne, die zwischen Leistung und Gegenleistung liegt. Aber beim Tausch des Geldes gegen Ware, wo der Urzins erhoben wird, fallen Leistung und Gegenleistung vollkommen zusammen. Das Darlehensgeschäft hinterlässt Gläubiger und Schuldner; das Tauschgeschäft lässt nichts zurück, das Geschäft ist restlos erledigt. ......
Der Urzins hat also keinerlei Verwandtschaft mit dem Darlehenszins. Der Urzins ist wie gesagt, ein Tribut, eine Steuer, ein Raub, nur nicht die Gegenleistung eines Darlehens......Der Kaufmann ist bereit, für ein Darlehen Zins zu zahlen, weil er weiß, dass er sich dafür an den Waren erholen kann. Kommt der Urzins in Wegfall, verliert das Geld die Fähigkeit, Urzins zu erheben, so wird der Kaufmann auch keinen Zins für Gelddarlehen anbieten können zwecks Ankauf von Waren.” [1916 (23)]
Am Ende seiner Grundlagenarbeiten in der ”Natürlichen Wirtschaftsordnung” muss also GESELL erkennen, dass seine Herleitung des Zinses eine schwerwiegende Unstimmigkeit aufweist: Sein Urzins ist keine von der Zeit abhängige Zinszahlung, wie wir sie in der täglichen Wirklichkeit erfahren, sondern eine einmalige Gebühr. Diesen Urzins hat aber auch noch niemand dingfest gemacht, noch niemand erkannt, ”weil er sich hinter dem Darlehenszins (seiner Kreatur) versteckt(e)”. Wie sich jedoch der Darlehenszins aus dem Urzins herleitet, erklärt GESELL nicht. Und ebenso wenig, wie sich rechnerisch eine Einmalzahlung in Form eines Tributes mit einer von der Zeitdauer abhängigen Zahlung zusammenführen lässt. 

Unstimmigkeit 2: Der als Kaufmann auftretende Geldbesitzer

Eine zweite Unstimmigkeit versucht GESELL erst viel später auszumerzen. Mit dem Tausch Ware gegen Geld mutiert ja der vorher benachteiligte Warenbesitzer zum privilegierten Geldbesitzer, der nun seinerseits den Vorteil des Geldes für sich nutzen kann. Es wird ja auch hier, wie ”bei der Geldverleihung nur der Besitzer des Geldes gewechselt, ohne dass dadurch irgend etwas am Geld geändert wird. Statt des Mannes ist es die Frau, die den Schlagbaum fallen lässt.” [1911 (17)] Insofern würde damit die Tributzahlung zum Nullsummenspiel: Zuerst geben, dann nehmen. Diese logische Schlussfolgerung lässt aber GESELL nicht gelten und erwähnt sie so auch nicht aus. Er muss sie aber im Kopfe gehabt haben, wenn er festhält: ”Der Verbraucher, von persönlichen Bedürfnissen getrieben, kann nicht warten, obschon sein Geld es ihm erlauben würde; der Warenerzeuger kann auch nicht warten, obschon seine persönlichen Bedürfnisse es ihm in manchen Fällen wohl gestatten würden; aber der als Kaufmann auftretende Geldbesitzer, der Eigentümer des allgemeinen, unentbehrlichen Tauschmittels, der kann warten, der kann Warenerzeuger und – verbraucher regelmäßig dadurch in Verlegenheit bringen, dass er mit dem Tauschmittel (Geld) zurückhält.
Aus Rücksicht auf diesen letzten Umstand können wir das Geld der Verbraucher überhaupt ganz aus unseren Betrachtungen ausschalten. Durch die Hände des Kaufmanns gehen alle Waren und geht alles Geld. [i] Darum sind die Gesetze des kaufmännischen Geldumlaufes hier allein maßgebend” [1920 (14)]
GESELLs Theorie funktioniert somit nur unter Voraussetzung, dass
1. der als Kaufmann auftretende Geldbesitzer, der Eigentümer des allgemeinen, unentbehrlichen Tauschmittels, der warten kann, sich zwischen die einzelnen Produzenten in ihrer Funktion als Konsumenten schiebt. Treten nur die Produzenten als Konsumenten ohne kaufmännische Vermittlung auf, ist erstens unklar, wie überhaupt das Geld ins Spiel kommt, und treten zweitens doch nur Warenbesitzer gegeneinander an;
2. Produzenten wie Konsumenten nicht warten können. In dieser Sichtweise aber können auch die Konsumenten, von persönlichen Bedürfnissen getrieben, kein Geld horten. Womit sich eine Geldhortung allein auf die Kaufleute beschränkt. Damit aber konstituiert GESELL, dass die Problematik nicht am Geld selbst liegt, sondern an den Geldbesitzern. Damit aber widerspricht er seiner eigenen Theorie der Überlegenheit des Geldes über die Waren.
Unstimmigkeit 3: Die Warenbesitzer können keinen Geldzins zahlen
Eine dritte Unstimmigkeit ist darin auszumachen, dass in GESELLs Theorie der Warenbesitzer gar keine Zinszahlungen in Geld leisten kann, da er ja nur Waren besitzt, die er erst gegen das Geld des Kaufmanns tauschen muss. Die Warenbesitzer mögen vom Geldbesitzer zuwenig Geld für ihre Produkte bekommen. Aber ebenso können sie dann ihrerseits dem Kaufmann, der allein ”Eigentümer des allgemeinen, unentbehrlichen Tauschmittels” ist, wiederum nur um dieses Geld die Waren, die nun in seinem Besitz sind, abkaufen. Mag sein, dass er ihnen nun dafür nicht jeweils das ganze Produkt des anderen verkauft, sondern etwas für sich behält. Aber Zinsen in Geld können die Warenbesitzer so nicht leisten.
GESELL dürfte dies auch anhand des Beipiels von Müller und Schmied (s.o.) erkannt haben. Und stellt es indirekt auch fest. 1911 vorerst nur kurz angemerkt, wird er 1916 ganz deutlich: ”Der genannte Tribut lässt sich jedoch nur durch den Verkauf der Waren erheben und dazu ist die Erfüllung einer Bedingung erforderlich: in der Zeit, die zwischen Kauf und Verkauf liegt, darf der Preis der betreffenden Ware nicht sinken. Der Verkaufspreis muss über den Einkaufspreis stehen, denn im Unterschied beider steckt der Tribut:” [1916 (6)]
Dieser Tribut kann vom Kaufmann als einfacher Kassenbote des Geldbesitzers also nur dann geleistet werden, wenn der Verkaufspreis über den Einkaufspreis liegt. Damit aber stellt sich die Tätigkeit des Kaufmannes nicht mehr als Tausch dar, sondern als Investition, eben als Geldvorschuss. Denn zwischen Einkauf und Verkauf liegt Zeit. Die Zirkulation des Geldes erfolgt damit nach der Formel G.W.G’, so wie es KARL MARX formuliert hat, - die Formel der Investitionswirtschaft - , auf die sich später auch GESELL immer wieder beruft: ”Eine Ware, die mit Urzins belastet werden soll, muss diese Last natürlich tragen können, d.h,, sie muss solche Marktverhältnisse vorfinden, die ihr gestatten, den Einstandspreis zuzüglich Urzins im Verkaufspreis einzulösen. Die Marktverhältnisse müssen also derartige sein, dass das Geld nach der Formel G.W.G.’ umlaufen kann.” [1911 (20)]
Unübersehbar ist hier der Widerspruch zur Formel WA. G. WB, - die Formel des Tauschhandels, wie sie GESELL indirekt im Text immer wieder formuliert, aber auch in einer Skizze darstellt. [1911(16)] Und er beginnt damit, eine neue, zweite Theorie zu entwerfen. Wie wenig er sich dessen aber bewusst ist, zeigt das Hin- und Herpendeln zwischen zwei unterschiedlichen Argumentationssträngen, was zwangsläufig zu weiteren Widersprüchen und Ungereimtheiten führt.
Unstimmigkeit 4: Verlangt der Zins eine Nachfrage größer oder kleiner als das Angebot?
Von der Einsicht ausgehend, dass der Verkaufspreis über den Einkaufspreis liegen muss, gerät GESELL in einen Totalwiderspruch, den zu überwinden er sich gleichfalls bemüht.
Während er nämlich immer wieder hervorhebt, dass das Angebot an Waren unentwegt und unaufhaltsam auf den Markt strömt, weil eben die Waren verderblich sind und Lagerkosten beanspruchen, gilt dies eben für das Geld nicht. ”Die Frage ist einfach und klar gestellt: Ist es möglich, dass es jemals zu einem dauernden Ausgleich zwischen Nachfrage und Angebot kommen kann, wenn das Angebot, dem Drucke natürlicher Verhältnisse nachgebend, ununterbrochen auf den Markt erscheint, die Nachfrage aber, von jenem natürlichem Zwange durch materielle Eigenschaften unseres Geldes befreit, nur die Laune, die Gewinnsucht, die Conjunktur oder wie man es nennen mag, zur Gebieterin hat und den Markt nur unter der Bedingung des Gewinnes betritt?” [1897 (6)]
Das Geld kann also warten, die Nachfrage also verkleinern, und so den Ausgleich zwischen dem Warenangebot und der Geldnachfrage stets stören. Denn ein Angebot an Waren größer als die Nachfrage in Geld führt erst zur Möglichkeit der Erpressung des Zinstributes.
Nun aber muss GESELL darstellen, wie denn der Verkaufspreis höher sein kann als der Einkaufspreis. Und nachdem auch bei ihm die Preise durch Angebot und Nachfrage bestimmt werden, ist ein Verkaufspreis höher als der Einkaufspreis nur dann möglich, wenn das Angebot an Waren kleiner ist als die Nachfrage in Geld.
Diese hierfür erforderlichen Marktverhältnisse werden – nach Gesell - dabei durch unser heutiges Geld geschaffen, indem es die Bildung von weiterem Realkapital verhindern kann, so dass das Angebot von diesem immer unter der Nachfrage darnach bleibt. ”Ich sage also kurz, bündig und unzweideutig, ... dass die zinstragende Kraft der heutigen Realkapitalien ... aus der künstlich durch das Geld vorbereiteten Marktlage entspringt, nämlich der erzwungenen, ständigen Unterproduktion an Realkapitalien, die einherläuft mit einer ebenso ständigen Überproduktion an Waren.” [1911 (13)]
Mit dieser Unterproduktion an Realkapital und Überproduktion an Waren versucht GESELL diesem Widerspruch nun zu entkommen. Er übersieht dabei aber, dass er mit der Einführung des Realkapitals auch eine neue Handlungsfigur in seine Theorie einfügt: Den Unternehmer. – Oder richtiger: das Unternehmen, - das mit Hilfe von Realkapitalien[ii] und Arbeit produziert. So stellt sich nun aber auch die Frage: Wie aber soll eine Überproduktion an Waren bei einer Unterproduktion von Realkapitalien möglich sein? Voraussetzung für die Erzeugung von Waren sind ja die Fabriken, Maschinen, Kraftwerke, Verkehrseinrichtungen. So sagt ja GESELL bereits 1904: ”Wie das Geld die Warenerzeugung den für die Erhebung des Zinses nötigen Absatzverhältnissen anpasst bzw. beschränkt, so beschränkt auch das Geld die Konkurrenz der Unternehmer den Arbeitern gegenüber so weit wie nötig, um den Zins des Unternehmens von den Produkten der Arbeiter abziehen zu können. ..... [1904 (1)] Die Amortisation und der Zins der Realkapitalien muss ja über die damit erzeugten Waren hereingespielt werden.
Und damit diese Waren den Zins tragen können, muss ihr Angebot kleiner sein als die Nachfrage in Geld.
Wenn nun aber das Angebot kleiner als die Nachfrage ist, fällt die den Zinstribut erpressende Kraft der Nachfrage weg, die GESELL so begründet: ”Wenn nun die Nachfrage die Freiheit, die sie genießt, sich zunutze macht und vom Markt fernbleibt? Dann wirkt der Zwang, dem das Angebot unterliegt, dahin, dass das Angebot die Nachfrage aufsucht, ihr entgegeneilt, sie heranzulocken sucht durch Anbieten eines Vorteil.” [(1911 (5)]
Die Erzwingung der Zinsen setzt nach GESELL eine Nachfrage kleiner als das Angebot,
die Zahlung der Zinsen jedoch eine Nachfrage größer als das Angebot voraus.
Beides aber kann nicht gleichzeitig der Fall sein.


[i] GESELLs Vorstellung vom ”kaufmännischen Austausch der Waren” und der Vormacht des Geldes gegenüber den Waren könnte sehr stark vom sgn. ‚Verlagswesen‘ beeinflußt worden sein, ein ausbeuterisches System, das zum Weberelend und 1844 zum Weberaufstand führte . Die Produkte der noch in den Haushalten angesiedelte Spinnerei und Weberei werden immer mehr über Geld ‚kaufmännisch vermittelt‘, d.h. die Produzenten verkaufen (oder tauschen ) nicht mehr auf regionalen Märkten gegen andere Güter, sondern arbeiten auf Auftrag der Verleger gegen Geld. Siehe dazu: Robert Kurz ‚Schwarzbuch Kapitalismus‘ Eichborn, 1999, S. 22ff
[ii] Richtig muß es heißen: Realvermögen. Denn dieses steht in der Bilanz auf der linken Seite, das Kapital auf der rechten. Das Realvermögen als Kapital zu bezeichnen, entspricht marxistischer Diktion. GESELL selbst an anderer Stelle: ”Am besten geht das aus dem ersten Blatte des Hauptbuches jedes Unternehmens hervor, dort ist das Gründungskapital mit einer Summe Geldes angegeben.”. [1904 (5)]

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